· 

Deutschlands Milchkaffeeproblem

Wer von Euch hat schon einmal einen Milchkaffee getrunken? So einen richtigen, einen zart-hellbraunen? Einen, der zu zwei Dritteln aus Milch und zu einem Drittel aus Kaffee besteht? Eventuell mit einer Milchschaumhaube gekrönt ist, die so fest ist, dass ein in sie gesteckter Kaffeelöffel nicht umfällt? Ihr schmunzelt? Ihr bekommt einen glasigen Blick bei der Erinnerung an eben gefragtes? Also wisst ihr, von was ich rede? Sehr schön. Könnt Ihr mir dann auch einen Tipp geben, wo in der Gastronomie in Deutschland ich noch einen solchen Milchkaffeetraum serviert bekomme?

 

Ich bin Liebhaberin und Genießerin dieses köstlichen Getränks, finde meine kreativsten Schreibideen in seinem Geschmack. Leider wird mir jeden Tag, mit jedem in deutscher Gastronomie bestellten und getrunkenen Milchkaffee klarer, mein Heimatland schlittert in ein riesengroßes Problem, in das Milchkaffee-Vergessens-Problem.

 

Heute möchte ich mich mit einer ungewöhnlichen Bitte an Euch, die Öffentlichkeit, wenden:

 

LEUTE, HELFT MIR, DEN MILCHKAFFEE ZU RETTEN.

 

Meinen ersten Milchkaffee schob mir mein Opa am Frühstückstisch zu, die Milchkaffeetasse hatte gefühlt die Größe einer Suppenschüssel, ihr Inhalt schmeckte köstlich, weckte mein Begehren nach MEHR. Seit damals, seit mindestens 50 Jahren, kann ich nicht von ihm ablassen. Nun bröckelt seit geraumer Zeit in der Öffentlichkeit das Wissen darüber, wie er richtig zuzubereiten ist. Es begann langsam, schleichend, vor gefühlt mindestens 10 Jahren, als zuerst einzelne Einrichtungen zu ignorieren schienen, was Milchkaffee bedeutete, wuchs exponentiell an, bis die Katastrophe des Vergessens die korrekte Rezeptur in der Öffentlichkeit fast auszulöschen drohte.

 

Ich schaue mir den Kaffeevollautomaten an, ein großer schwarzer Kunststoff- bzw. Metallquader mit vielen verschiedenen Bedienknöpfen, einem Display, einem Kaffeebohnen- und einem Milchbehälter. Selbstsicher protzt er mit seinem Wissen vom dunklen Getränk. Ich fordere ihn heraus, mir seine Rezepturen preiszugeben. Auf einem seiner Bedienknöpfe lese ich ‚Café au lait‘, was übersetzt Milchkaffee bedeutet. Ich drücke ihn und in meine Tasse ergießt sich ein eher mittelbraunes Viel-Kaffee-wenig-Milch-Gemisch, das mit einer dünnen Milchschaumhaube zischend gekrönt wird. Die Kaffeebohne überlagert den feinen Geschmack der Milch, tötet, was ohnehin fast nicht vorhanden ist. „Maschine“, flüstere ich ihm in sein Mahlwerk, „du hast es einfach nicht drauf. Bist die Katastrophe in Traumverpackung.“ Mir kommt der Gedanke, ob hier der Hersteller des Automaten, der das Mischungsverhältnis des Milchkaffees in die Maschine einspielte, eine gute alte Tradition sabotieren möchte oder einfach nur in der Recherche schlampig arbeitete, wie das in unserer schnellen hektischen Zeit oft der Fall ist.

 

Viele Jahrzehnte habe ich Frankreich bereist und bereise es als Grenzgängerin noch, trank bei unseren Nachbarn den Café au lait nach einem guten Essen oder auch nur, weil ich Gelüste hatte, tue dies selbstverständlich nach wie vor. Nun stelle ich in unserem Milchkaffeedesaster fest (Ihr könnt mich jederzeit korrigieren), dass man sich in Deutschland mittlerweile der französischen Rezeptur bedient, die von der deutschen enorm abweicht. Café au lait ist nicht gleich unserem deutschen Milchkaffee. In Frankreich besteht er aus einer Tasse schwarzem Kaffee, zu dem man ein klein bisschen geschäumte Milch separat in einem kleinen Milchgießer bekommt.

 

Regelmäßig, wenn ich den Kaffeevollautomaten-Milchkaffee serviert bekomme und mich beschwere, dass es sich hier nicht um den guten deutschen Milchkaffee handelt, sondern um das Franzosen-Ding, werde ich von 450 €-Gastronomen eines Besseren belehrt, die mir sehr wichtig erklären, dass doch selbstverständlich der für den Milchkaffee korrekte Knopf betätigt worden sei, Café au Lait. 'Aha', denke ich daraufhin, 'wieder jemand, der keine Ahnung hat.' Wenn ich nachhake und frage, wie ein Milchkaffee zuzubereiten ist, ein deutscher, stünde der Kaffeevollautomat nicht zur Verfügung, ernte ich ein Schulterzucken. Höre ich da: Ein bisschen Kaffee, ein bisschen Milch? 'Ja, genau', denke ich mir dann, 'aber auf das richtige Mischungsverhältnis kommt es doch an.' Da die meisten Gastronomen sich mittlerweile ihren Maschinen unterwerfen, selbst nicht mehr eigenständig arbeiten, kann ich ihnen nicht einmal böse über dieses Wissensdefizit sein. Leider ändert mein Verständnis für ihr Dilemma wenig an der Tatsache, dass die Milchkaffeerezeptur in Vergessenheit gerät.

 

Überrascht wurde ich vor Kurzem in einem italienischen Restaurant, als ich einen Milchkaffee bestellte. Ein junger Kellner bedauerte, mir einen solchen nicht anbieten zu können, aber eine exquisite Latte Macchiato für mich zaubern zu wollen. Ich bestellte, er lieferte, ich genoss, und wurde an unseren heimischen Milchkaffee erinnert, bedankte mich vielmals für diesen Genuss bei ihm, wurde melancholisch, wünschte mir die guten alten Milchkaffeezeiten in die Gastronomie zurück.

 

Leute, der Milchkaffee gehört in Deutschland mittlerweile zu einer der bedrohten Arten. Leistet Widerstand, Artenschutz. Schließt euch mit mir kurz. Gemeinsam sind wir stark, retten, was auf der roten Liste für aussterbende Rezepturen steht.