Corona tritt in den Hintergrund. Die Menschen haben Nachholbedarf und es kümmert sie nicht mehr, dass wir noch mitten in einer Pandemie stecken. Sie tragen ihren eigenen Egoismus hoch, verreisen, versammeln sich in Massen. Was war, ist vergessen, existiert nicht mehr, war eben mal eine Episode, die man notgedrungen mitgemacht hat.
Von allen Seiten werde ich die Tage mit Verschwörungstheorien konfrontiert und begreife nicht, wie gebildete Menschen auf derart unglaublichen Blödsinn kommen. DIE wollen uns reduzieren, höre ich da immer wieder. Wenn ich nachfrage, wer DIE sind, bekomme ich keine vernünftige Antwort. Sind das Aliens, Halbgötter, ist es eine Regierung, die die ganze Welt auf dem Kieker hat? Oder gibt es einen Menschen auf unserer Erde, der so mächtig ist, uns zu dezimieren? Ich verstehe nicht, wer DIE sind und beschäftige mich auch nicht mit derlei Blödsinn.
Ich weiß aber, wer meine Igel zu bedrohen versuchte, nämlich mein Nachbar, und letzten Endes siegte. Das sind für mich greifbare Entwicklungen, die ich nicht verhindern konnte. Aber der Reihe nach.
Tagebuchauszug:
13. August, vormittags. Mein Nachbar brüllt im Garten: „Überall nur noch Igel. Gestern 6, heute 2.“
Hier bekomme ich die Zahl der Igel geliefert, von der sich mein Nachbar belästigt fühlt. Das ist die Anzahl seiner Igel, Mutter mit den Einjährigen, die ich letzten Winter päppelte, aus seinem Nest, das er auf seinem Grundstück hatte.
Er weiß nicht, dass sich mittlerweile bis zu 20 Igel jede Nacht bei mir einfinden. Igel in Futternot. Der Sommer ist heiß, die Insekten sind rar, den Igeln geht es schlecht. Sie sind teils sehr abgemagert, obwohl sie jetzt im Sommer ihre Jungen zu versorgen haben, ihnen Milch geben müssen, und selbst nichts auf den Rippen haben. Natürlich bekommen die Tiere von mir Unterstützung. Anderen Menschen sind die hungernden Stachelritter egal, mir sind sie lieber als der EGOIST, der URLAUBER, der MENSCH. Ich bin selbst ein wildes Kind, bin den Tieren ähnlicher als den Menschen.
13. August, nachmittags. Ich fülle Wasser in den großen Trinknapf der Igelstelle 1. Ich sehe, wie die beiden alten Nachbarn auf dem Balkon sitzen.
Nachbar: „Ich mache die Igel kaputt.“
Nachbarin: „Lass dir doch einen Katalog schicken.“
Nachbar: „Brauche ich nicht. Krrrgh-Geräusch (Mund-Rachen-Geräusch) – so mache ich das.“
Er deutet über seine Hände an, dass er ihnen den Kragen umzudrehen gedenkt.
Ich bekomme fürchterliche Angst um meine Schützlinge. In dieser Nacht bekommen die Igel kein Futter von mir, da der Nachbar die ganze Zeit über die Futterstellen beobachtet und ich das Gefühl habe, dass er wirklich plant, ihnen etwas anzutun.
Gegen 23 Uhr, als ich noch auf dem Balkon sitze, weil ich nicht schlafen kann und mir richtig Sorgen um die Igel mache, japst jemand, als ob er keine Luft bekommen würde. Irgendwann gehe ich zu Bett, habe aber einen sehr leichten Schlaf, bin immer wieder lange Zeit wach, höre im Feld vereinzelt Tiere wimmern und jammern, denke aber nur daran, dass meine Igelchen eventuell Hunger haben.
Als ich in der folgenden Nacht, vom 14. zum 15. August wieder fütterte, kommt kein einziges Tier weder zu Futterstelle 1 noch zu Futterstelle 2. Mir wird sofort klar, dass mein Nachbar die Tiere umgebracht hatte. Ich lasse die Igelfutterstellen noch 3 Tage bestehen, an denen ich am letzten Tag ein Knuspern höre. Ich hoffe, dass ein Igel überlebt hat, es könnte sich aber auch ein Marder oder ein Fuchs an der Futterstelle eingefunden haben. Ich kann niemanden sehen, nur das Knuspern hören.
21. August, gegen 12 Uhr, Nachbar und Nachbarin sitzen auf dem Balkon.
Nachbarin Senior: „Wie viele Igel noch?“
Nachbar Senior: „Einen muss ich noch.“
Ich begreife das Gespräch zuerst nicht. Doch plötzlich dämmert mir, dass ein Igel überlebt hat, das Tier, das ich knuspern hörte.
Ja, mein Nachbar hatte wahr gemacht, was er seiner Frau auf dem Balkon gesagt und ich gehört hatte, er hat die Igel, vermutlich über Futterköder, umgebracht. Eine andere Erklärung habe ich nie gefunden. Hätte er sie eingefangen und umgesetzt, hätte er nur einen Bruchteil dessen, was an meine Futterstellen kam, zu greifen bekommen. Es gibt in der Tat nur die Erklärung, dass sie getötet wurden. Und ja, ein einziger von den ganzen Tieren, die mir so vertraut waren, hat überlebt.