Müde war ich, an diesem Abend. Kalt war mir, an diesem Abend. Lust hatte ich keine, meine Wohnung zu verlassen, an diesem Abend. Und doch zog ich mich um, elegant, aber nicht zu sehr, für schwarz hatte ich mich entschieden. Schwarzer Rolli, schwarze Hose. Blazer in Dunkelgrün. Seidenschal. Die Lippen rot geschminkt.
Ich ging in die Kälte, ins Dunkel. Kontrollierte schnell meine Igelfressnäpfe. Stand 10 Minuten später vor einem hell erleuchteten Gebäude, der Kulturhalle. Menschen strömten in die Wärme. Ich lief ihnen nach. Ging ins Rilke-Projekt. Theater ganz groß. Sagte man. Keine Ahnung, was mich erwartete. Rilke, Gigant, einer meiner Lieblinge. Seit Jahrzehnten hatte ich mich mit ihm beschäftigt, konnte viele seiner
Gedichte auswendig vortragen.
Ich kämpfte mich durch das Foyer. Menschenmengen standen kreuz und quer, tranken Sekt, aßen Lachs. Jetzt betrat ich den Saal. Ich blickte mich um. Auch hier: Menschen, bunt zusammengewürfelt, in grün, orange, blau, pink. Bunte Farbklekse überall. Und Stimmengemurmel. Wer nicht Sekt trank, saß auf seinem Platz und sprach mit dem Nachbarn. Ich setzte mich auf meinen Platz, saß zwischen Leuten, die, so
glaubte ich, keine Ahnung hatten, wer Rilke war oder was er geschrieben hatte.
Das Licht ging aus. Ralf Bauer betrat die Bühne, trug das erste Gedicht vor. Musik untermalte seine angenehme sonore Stimme. Nina Hoger kam hinzu. Das zweiter Gedicht, es wurde in den Raum gehaucht, hing zwischen dem gebannten Publikum. Ich war gebannt. Alle anderen um mich herum auch.
Ich hatte sie unterschätzt, hatte Rilke unterschätzt. Selbst wenn sie ihn vorher nicht kannten und er schon lange tot war, hatte er sie doch fest in seinem Griff. Wie er mich schon immer fasziniert hatte, schwappte wohl dieser Rilke-Zauber auf die anderen über.
„Die Engellieder“, „Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort“, „Der Turm“, alles, was ich in den Jahrzehnten kennen und lieben gelernt hatte, wurde von den beiden vorgetragen, oder von einem Sänger gesungen. Zeitweise war es mucksmäuchsenstill im großen Saal. Eine Stecknadel hätte man fallen hören können, so angespannt und
aufmerksam wurden die Rilke-Verse vom Publikum aufgenommen, ja, aufgesaugt. Begeisterung. Am Ende des Projekts donnernder Applaus.
Ich kam zurück in meine Wohnung, war im Rilke-Fieber. Holte mir eines seiner Werke aus meinem Bücherregal, las wieder einmal einige Gedichte. Und begriff, dass man ihn nicht vorher gekannt haben musste, um sich auf diesen Abend einzulassen. Ich hatte am Verstehen der Menschen gezweifelt und dabei völlig außer Acht gelassen, dass
Rilke der Meister des Worts war, der mit Leichtigkeit die Herzen der Menschen
mit seinen Gefühlen berührte.
Eines begleitet mich derzeit besonders:
Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort
Ich fürchte mich so vor der
Menschen Wort.
Sie sprechen alles so deutlich aus:
Und dieses heißt Hund und jenes heißt Haus,
und hier ist Beginn und das Ende ist dort.
Mich bangt auch ihr Sinn, ihr Spiel mit dem Spott,
sie wissen alles, was wird und war;
kein Berg ist ihnen mehr wunderbar;
ihr Garten und Gut grenzt grade an Gott.
Ich will immer warnen und wehren: Bleibt fern.
Die Dinge singen hör ich so gern.
Ihr rührt sie an: sie sind starr und stumm.
Ihr bringt mir alle die Dinge um.
Rainer Maria Rilke