· 

Die Nordsee

Als ich dieses Jahr in Jever war, erneuerte ich meinen Bund zur Nordsee, einem meiner Sehnsuchtsorte, an denen ich schreibend extrem produktiv bin. Ich musste mir einmal mehr eingestehen, dass sie eine der Lieben meines Lebens ist.

 

Doch was ist es, das mich so sehr mit ihr verbindet, dass, wann immer ich es einrichten kann, sie besuche?

 

Ich gehe in meine Kindheit zurück. Ich war nicht älter als 10 Jahre, da hörte ich vom Schimmelreiter. Wer oder was mir von ihm erzählte, kann ich heute nicht mehr sagen, aber die Geschichte packte mich und gab mich nicht mehr frei. Bis heute empfinde ich Trauer um Hauke Haien und sein Pferd, die beide in der Sturmflut ertranken. Ich rieche das wild gewordene Wasser und höre sein Tosen. Als ich mit 16 Jahren selbst auf dem Deich vor dem Hauke-Haien-Koog stand, war mir schwindlig vor wirren Gefühlen. Husum, Theodor Storm, die Halligen, reetgedeckte Häuser, Friesenstuben, die tosende Nordsee. Ein weißes Pferd, das einen stattlichen Reiter trägt. Alles drehte sich in meinem Kopf und verquickte sich zu unzähligen Geschichten, Gedichten, Liedern. Meinen eigenen und denen von Theodor Storm.

 

Dann gab es da auch einen jungen Mann, Eckehard Klöde, meinen Wattführer aus Jugendtagen. Was begeisterte mich dieser Mensch, wenn er von der rauen See und seinem Friesland erzählte, oder mit den Möwen kommunizierte. Der Wind griff in sein langes Blondhaar, spielte mit ihm, zerwühlte es. So wild wie die See war, die er liebte, so wild war er selbst und ich wünschte mir so oft für ihn, dass das Leben ihn nicht brechen werde, ihn nicht zu etwas zwingen durfte, das er selbst nicht wollte. In unzähligen meiner Tagträume tauchte er als mein Protagonist auf. Manchmal dachte ich an Hauke Haien und sah ihn. Ich schloss einen Bund mit dieser See, sie so oft, wie es mir möglich ist, zu besuchen.

 

Vielleicht ist es eine sentimentale Verquirlung von Matrosenliedern, Gruselgeschichten von untergegangenen Schiffen, Moorleichen, Irrlichtern, der im Meer versunkenen Stadt Runghold, die mich immer wieder an die Küste zieht. Egal, was es ist, aber das Produkt von gelebten Tagen im Norden ist immer eine neue Geschichte oder die Idee zu einer solchen.

 

Vor vielen Jahren war Jever einer meiner Schreiborte, und

ich möchte Ihnen einen Text vorstellen, der dort entstanden ist.

 

Text aus ‚Viktor, Kunstgebilde‘

…wie die Nordsee…

 

Wenn ich durch das Watt laufe, den Schlick unter meinen Füßen spüre, Priele durchquere, wenn ich auf grünen Deichkronen gegen heftigen Wind ankämpfe, um vorwärts zu kommen, wenn ich die Gezeiten beobachte, das Anschwellen und das Ablaufen des Wassers, spüre ich eine tiefe Liebe zur See. Zur Nordsee. Ich möchte wie eine Möwe aufsteigen, mit den Winden gleiten, den Wellen meine Flügel entgegenstrecken, mein weißes Gefieder auf seinem dunklen Wasser spiegeln. Dieses Meer, rau, unbeugsam wie ich selbst, durch nichts zu bezähmen, umgeben von einer kargen Landschaft, macht es mir nicht immer leicht, meine Liebe zu ihm aufrecht zu halten, sie ihm entgegenzubringen. Von Zeit zu Zeit beschleicht mich eine Angst, die wie Ebbe und Flut ansteigt und weicht, aber ich werde durch seine Sanftheit, die es genauso zeigen kann, unendlich reich belohnt.

 

Ich kenne einen Menschen, der ist wie die Nordsee.

 

Wäre die Nordsee menschlich, hätte sie ein Leben in dem Sinn, wie wir es verstehen, würde man leichtfertig über sie urteilen. Man würde sich an der zerstörenden Seite ihres Charakters hochziehen. Launisches Lebewesen, würde man sie schelten. Missmutiges Geschöpf, würde man hinter ihrem Rücken mauscheln. Man würde ihr nachsagen, ohne Verstand und Gefühl zu verletzen. Man würde sie anklagen, aus einer Verstimmung heraus zuzuschlagen und viele Opfer hinter sich herzuziehen. Man würde sie beschimpfen, es immer wieder zu tun, ohne über ihr Handeln nachzudenken. Man würde keine Reue in ihrer Natur erkennen können. Man würde nicht hinterfragen, warum sie alles mit sich ins Verderben zieht, was sich ihr in den Weg stellt. Man würde nicht bedenken, dass sie eine Existenz ist, die mehr Freiheit, mehr Raum braucht, um sich auszudehnen. Leichtfertig würde man sie mit einer sanften Ostsee, einer zarten Adria vergleichen und sie als unliebsam verbannen.

 

Ich weiß von einem Menschen zu erzählen, der ist wie die Nordsee.

 

Man muss tief lieben, um die Schönheit dieser See zu erkennen. Es ist nicht leicht, hinter einer Sturmflut einen Sinn zu vermuten. Es gilt, die Besonderheit des schmutzig aussehenden Wassers schätzen zu lernen. Die oft karge Landschaft, schnell aufziehender Nebel und Sturm, fordern zu genauem Hinsehen. Das Verstehen und Begreifen ist ein schwieriger langwieriger Prozess. Hat man ihn durchlaufen und erkannt, gibt es kein Zurück. Man empfindet tief solange man lebt und kann sich diesem Gefühl nicht entsagen.

 

Ich kann über einen Menschen berichten, der ist wie die Nordsee.

 

Meine schöne See setzt klare Signale, die mir zeigen, wann ich mich vor ihr in Acht zu nehmen habe, wann ich ihr unbekümmert entgegentreten kann. Ich kenne die Zeichen, den Wind, den Wellengang, die Wolkenbildung, das Verhalten der mit ihr lebenden Tiere. Ich kann sie deuten und suche, wenn nötig, hinter den Deichen Schutz. Eine Zuflucht, die mir ein Überleben sichert, mich stärkt und mir in ruhigerer Zeit wieder Zutritt zu ihr verschafft. Ohne diese schützenden Wälle würde ich nicht wagen, mich ihr zu nähern.

 

Ich trage einen Schutzwall in meinem Herzen, der mich zu gegebener Zeit vor einem Menschen schützt. Dieser Eine, er ist wie die Nordsee.

 

Die Deiche in meinem Innern sind hoch. Grün bewachsen, stabil. Sind gegen meinen Menschen ausgerichtet. Der, der ist wie die Nordsee. Wenn ich mutig bin und Lust verspüre, mich ihm zu nähern, betrete ich seinen Sandboden, durchquere seinen Schlick, achte auf seine Melodie, die er mit den Möwen, Kiebitzen und Säbelschnäblern singt. Ich lasse mich von seinem Salzwasser tragen, betrachte interessiert das Strandgut, das er mir anschwemmt. Wenn ich spüre, dass er sich gegen mich erhebt, flüchte ich auf meine Deichkrone, beobachte den aufkommenden Sturm, den hohen Wellengang, kann nicht verhindern, dass er alles, was sich ihm entgegenstellt, mit sich reißt und vernichtet. Wenn meine Angst zu groß wird, wenn ich ihn nicht mehr ertrage, weil er in einer Springflut über mich herfallen könnte, verstecke ich mich hinter meinem grünen Hügel. Ich laufe fort, möchte ihn nicht mehr sehen, nicht mehr hören, nicht mehr riechen.

 

Aber die Erinnerung an ihn, sie ist schön, schön wie die Nordsee.

 

Reizend ist sie. Meine schöne See. Umspült mit sanften Wellen zum Gesang der Wasservögel meine Füße. Schmeichelt mir mit ihren Schaumgaben, die sie auf ihren Wellenkronen trägt. Beschenkt mich mit Muscheln, die sie mir anschwemmt. Macht mich mit tanzenden Krabben und Fischen bekannt, hievt mir Quallen vor meinen Körper. Sie murmelt mich an, sie setzt mir Zeichen, die ich zu deuten in der Lage bin. Und ich verstehe.

 

Ich lese in einem Menschen, der ist wie die Nordsee.

 

Ja. Meine See. Sie ist rau. Unbändig. Nur schwer einzudämmen. Aber ich verstehe sie, schätze ihre Wildheit, die nicht zu zügeln ist. Sie macht nichts aus einer launischen Tücke heraus. Ich kann ihr Tun erklären. Weil ich beobachte. Weil ich begreife. Weil ich erkenne. Ihre Schönheit, und ihre Sanftheit. Mit meinem Menschen verhält es sich ähnlich. Oft wirft er mir düstere Blicke zu, die mich im ersten Moment vor ihm zurückschrecken lassen. Ich versuche zu lesen, in seinen bernsteinfarbenen Augen, aber sie stieren trübsinnig, sind undurchdringlich, lassen mich nicht auf den Grund seiner Seele blicken. Seine Stimme schlägt mir wie aufkommender heftiger Wind entgegen und seine Stirn kräuselt sich zum Sturm. Wenn ich nicht aufpasse, wird es für mich gefährlich. Ich ducke mich, zum Sprung hinter den Deich bereit. Doch im nächsten Moment verfällt er in eine Melancholie, ähnlich mir, die ich die See betrachte, und erst dann lässt er zu, tief in ihn einzudringen. Zeigt mir in diesem Moment, dass ich nichts zu befürchten habe. Vertraut sich mir an. Lächelt mir zu. Ich spüre ihn, wie ich das Wasser spüre. Für den Moment. Ich bewege mich in ihm.

 

In ihm, meinem schönen Menschen. Diesem einen, der der Nordsee so ähnlich ist.

 

Ich verstehe meine schöne See. Sie unterliegt den Gesetzen der Natur. Aber wie sieht es mit meinem Menschen aus? Er hat Verstand.