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Die Zitrone

Ich sitze auf der Terrasse meines Lieblingslokals an meinem Lieblingssee und  schaue auf sein grünes Wasser. Die Sonnenstrahlen brechen sich in den kleinen Wellen, und ich habe Durst. Mein Kellner stellt ein Glas Mineralwasser vor mich auf den Tisch, indem eine Zitronenscheibe und zwei Eiswürfel schwimmen, umspült von unzähligen aufsteigenden Kohlensäureblasen. Die Bläschen scheinen zu wetteifern, wer von ihnen als erstes die Zitrone berührt. Hmm, können Kohlensäurebläschen Fangen spielen?

 

Ich betrachte mir die Zitronenscheibe. Die Schale hat einen Grünstich. Die Farbe des Fruchtfleischs ist zartgelb. Sie sieht unreif aus und ich vermute, sie hat nur einen Bruchteil des Aromas entwickelt, das ihr eigen ist. Warum lässt man sie nicht noch ein paar Tage oder Wochen am Strauch hängen, damit sie aromatischer wird?

 

Plötzlich fällt mir alles Mögliche zum Thema Zitrone ein. Wie gut der Saft der Zitrone sich mit Marmelade vermengen lässt. Oder wie angenehm kühlend Zitronenscheiben sich, auf die Haut gelegt, anfühlen und auch ein bisschen jucken. Ich möchte über diese Zitronenscheibe schreiben. Ich denke mir, es kann kein Problem sein, mir eine Geschichte darüber aus dem Ärmel zu schütteln. Aber, noch während dieser Gedanke geboren wird, kommen schon die ersten Fragen dazu auf. Was will ich denn eigentlich darüber schreiben? Wie sie ihren Freischwimmer im Mineralwasser macht und von Hitzeblitz-Kohlensäurebläschen gejagt wird? Dass mein

Lieblingskellner eine besondere Technik entwickelt hat, wie man eine Zitrone

hauchdünn aufschneidet? Oder möchte ich über die Entführung der Zitrone aus

ihrem Heimatland berichten? Will ich eine fliegende Untertasse aus ihr machen?

Sie in einen Kugelfisch verwandeln?

 

Fragen über Fragen, gefühlt so viele, wie mein Mineralwasser Kohlensäurebläschen hat. Da ich nicht spontan beantworten kann, in welche Richtung ich mit meinem Schreiben gehen möchte, kommt mir eine weitere Idee: ich werde eine freie Assoziation über die Zitrone machen.

 

Gibt es einen Gegenstand, der besser geeignet ist, freie Assoziationen in Ihnen zu

wecken und fließen zu lassen, als die Zitrone? Wohl kaum. Die gelbe Zitrusfrucht, die aus der Sonne kommt und dieser bei oberflächlicher Betrachtung sehr ähnelt, ruft allein, dass wir sie in den Händen halten, alle möglichen Erinnerungen in uns wach. Die Gedanken fließen.

 

Probieren Sie es mit mir zusammen aus:

  • Besorgen Sie sich eine Zitrone.
  • Nehmen Sie eine für Sie bequeme Haltung ein. Das kann ein ganz bequemes Sitzen in Ihrem Fernsehsessel sein, aber auch eine Meditationshaltung.
  • Entspannen Sie sich nun. Werden Sie ganz ruhig.
  • Betrachten Sie sich die Zitrone in Ihren Händen. Welche Eigenheiten weist die Schale auf? Können Sie Druckstellen, Unebenheiten wahrnehmen? Erkennen Sie noch den Strunkansatz?
  • Schließen Sie nun die Augen und seien Sie sich der Zitrone in Ihrer Hand bewusst.
  • Befühlen, beriechen Sie sie. Lecken Sie an ihr (nur dann, wenn es sich um eine unbehandelte BIO-Zitrone handelt). Können Sie etwas zu ihrem Geschmack sagen? Halten Sie sie an Ihre Haut und streicheln Sie sich sanft damit. Wie fühlt sie sich an? Was löst diese Frucht bei der Berührung mit Ihrer Haut in Ihnen aus?
  • Erinnern Sie sich an den Geschmack der sauren Frucht? Läuft Ihnen das "Wasser" im Mund zusammen? An die Farbe ihres Fruchtfleischs? An die unzähligen Kerne?
  • Was kommt Ihnen in den Sinn? Schreiben Sie alles auf, was an Ideen, Assoziationen nun aus Ihrem Unterbewusstsein an die Oberfläche dringt.

Wenn Ihnen keine Ideen mehr kommen, schließen Sie die Übung ab. Sind die Ideen

geflossen? Haben Sie viele Assoziationen gefunden? Haben Sie diese notiert? Wenn Sie jetzt noch Lust haben, schreiben Sie über die Zitronenscheibe, die in meinem Mineralwasser schwimmt, oder besser noch, schreiben Sie über eine Zitrone im Allgemeinen. Verarbeiten Sie sie zu einer Science-Fiction-Geschichte, einer Gruselgeschichte, einer Erzählung oder einem Sachtext. Oder schreiben Sie eine Liebesgeschichte, z.B. über die leidenschaftliche Beziehung zwischen einer Zitrone und einer Limette. Was immer Ihnen zum Thema Zitrone einfällt, ist richtig und gut. Alles ist erlaubt, was Ihrer Fantasie entspringt.

 

Übringens: Was mit der Zitrone funktioniert, können Sie mit jedem x-beliebigen Gegenstand Ihrer Wahl machen. Diese Übung schärft Ihre Sinne und mit ihr können Sie kleine Schreibblockaden überwinden, und nach einem Hängerchen wieder ins Schreiben

kommen.